Brasilien: Größte Volkswirtschaft Lateinamerikas zeigt trotz Gegenwind bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit
Auf einen Blick
- Brasilien verfügt über große Vorkommen an metallischen Mineralien und gilt als eine der Kornkammern der Welt. Dadurch hat das Land großes Potential im Rohstoffhandel.
- Eine starke Abhängigkeit von Rohstoffen hat zu einem Deindustrialisierungsprozess, Bedenken hinsichtlich der Entwaldung und einer Anfälligkeit für einen Abschwung der Rohstoffpreise geführt.
- Die Zentralbank hat die Inflationsrate in zweistelliger Höhe erfolgreich bekämpft, doch neue Herausforderungen könnten bevorstehen, da sich die Inflation als hartnäckig erweisen dürfte.
- Staatsfinanzen bleiben die Achillesferse des Landes, vor allem in Anbetracht der zunehmenden klimawandelbedingten Naturkatastrophen.
- Das mittel- bis langfristige politische Risiko, das 2022 hochgestuft wurde, sowie das kurzfristige Risiko haben einen stabilen Ausblick.
Pro
Kontra
Staatsoberhaupt und Regierungschef
Bevölkerung
BIP pro Kopf
Einkommensgruppe
Wichtigste Exportprodukte
Größte Volkswirtschaft Lateinamerikas zeigt trotz Gegenwind Widerstandsfähigkeit
Die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt hat in den letzten Jahren starke Leistungen verbucht. Die Wirtschaft hat sich schneller als andere in der Region von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie erholt und gleichzeitig ihr historisches Leistungshoch übertroffen. Das reale BIP-Wachstum lag zwischen 2021 und 2023 bei durchschnittlich etwa 3,6 % und damit mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt von 1,4 % zwischen 2010 und 2020 (siehe Grafik unten). Gleichzeitig belasten ein Umfeld geprägt durch relativ hohe Zinssätze und ein geringeres Wirtschaftswachstum in China, Brasiliens wichtigster Handelspartner, die Wirtschaft des Landes. Darüber hinaus wurde Brasilien in diesem Jahr durch mehrere durch den Klimawandel hervorgerufene Naturkatastrophen heimgesucht, zum Beispiel durch verheerende Überschwemmungen in Rio Grande do Sul im April und Mai und die intensivste und längste Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1950, von der seit Juli fast 60 % des Landes betroffen sind. Die wirtschaftlichen Folgen der Dürre sind noch nicht klar absehbar: Der Agrarsektor und die Produktion von Strom aus Wasserkraft sind für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung, aber derzeit gibt es genügend Wasser für den Betrieb der Wasserkraftwerke und die Pflanzsaison befindet sich noch ganz am Anfang. Dennoch wird für 2024 ein bemerkenswert robustes reales BIP-Wachstum von 3 % prognostiziert.
Der ökologische Wandel und Entwicklungen in der KI könnten die Wirtschaft ankurbeln
Das Wirtschaftswachstum dürfte mittelfristig auf etwa 2,3 % sinken, was auf erhöhte Zinssätze und strukturelle Herausforderungen wie eine unterdurchschnittliche Infrastruktur, bürokratische Hürden, unzureichender Zugang zu Krediten für Unternehmen und hohe Handelsbarrieren zurückzuführen ist. Dennoch wird davon ausgegangen, dass die lang erwartete Reform zur Steuervereinfachung, die nach einer Ausarbeitungsdauer von drei Jahrzehnten Ende 2023 verabschiedet wurde und mehrere Steuern in einem dualen Mehrwertsteuersystem zusammenfasst, mittelfristig das Wirtschaftswachstum unterstützen wird, je nachdem, welche Steuerbefreiungen gewährt werden. Zu den Abwärtsrisiken für die Prognose gehören Brasiliens Anfälligkeit für klimawandelbedingte Naturkatastrophen, die sich seit 1990 verdreifacht haben, schwere Unruhen infolge einer polarisierten Gesellschaft und eine erhebliche Verschlechterung der öffentlichen Finanzen. Positiv zu vermerken ist, dass höhere Rohstoffpreise und die weitere Erschließung wichtiger Mineralien das Wirtschaftswachstum ankurbeln könnten. Brasilien verfügt über das drittgrößte Vorkommen an Seltenen Erden (etwa 10 % der weltweiten Gesamtmenge), ist aber nur der sechstgrößte Produzent.
Darüber hinaus hat die KI-Revolution ebenfalls großes Potenzial, wird aber derzeit durch begrenzte Investitionen, eingeschränkte Daten und fehlende Rahmenbedingungen gebremst. Außerdem könnte eine Welt, die sich zunehmend in Richtung geopolitischer Blöcke entwickelt, sich sowohl negativ als auch positiv auf die Wirtschaft auswirken. Die neutrale Haltung Brasiliens könnte dazu führen, dass mehr Handel zu seinem Vorteil umgeleitet wird, wie es 2018 der Fall war, als China für seine Sojabohnenimporte von den USA auf Brasilien gewechselt ist. Zunehmender Protektionismus und steigende Zölle sowie höhere geopolitische Unsicherheiten und Volatilität könnten sich jedoch auch auf Brasilien auswirken, selbst wenn das Land nicht unmittelbar im Kreuzfeuer steht.
Erfolgreiche Senkung der zweistelligen Inflation, doch der Kampf ist für Brasilien noch nicht vorbei
Nach den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie gelang es der Banco Central do Brasil (BCB), die zweistellige Inflation erfolgreich zu bekämpfen. Wie die meisten lateinamerikanischen Länder erhöhte die Zentralbank die Zinssätze schnell und offensiv, ein Jahr vor den Industriestaaten. Infolgedessen erreichte die Inflation bereits im Mai 2022 mit 12 % ihren Höchststand (den höchsten Stand seit 2003) und fiel bis Juni 2023 wieder auf 3 %, was der Zielrate der BCB entsprach und zu offensiven Zinssenkungen führte. Der Kampf gegen die Inflation ist jedoch noch lange nicht vorbei: Angesichts eines schwankenden Wechselkurses und steigender Inflation wurde der Zinssatz im September 2024 erneut erhöht (siehe Grafik unten). Eine weitere Straffung der Geldpolitik ist künftig möglich, da die Inflation angesichts der anhaltenden geopolitischen Ereignisse, der zunehmenden Währungsvolatilität und der potenziellen Auswirkungen der schweren Dürre wahrscheinlich weiterhin Anlass zur Sorge geben wird.
Großes Potential im Rohstoffhandel, doch die Deindustrialisierung birgt Risiken
Brasilien hat große Chancen im Bereich des Rohstoffhandels. Das Land hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer der Kornkammern der Welt entwickelt und ist der führende Exporteur von Sojabohnen, Zucker, Rindfleisch, Geflügel, Kaffee und Mais. Es ist auch ein wichtiger Akteur auf dem Weltmarkt für Erze und Metalle und der zweitgrößte Exporteur von Eisenerz. Darüber hinaus dürfte sich das Land zu einem Motor für die grüne Energiewende entwickeln, da es neben dem Export von seltenen Erden der fünftgrößte Lithium- und Kupferproduzent der Welt ist. Seit 2018 ist es außerdem ein Nettoexporteur von Brennstoffen und nach Mexiko der zweitgrößte Ölexporteur in Lateinamerika.
Die Kehrseite der Medaille ist ein besorgniserregender fortschreitender Deindustrialisierungsprozess. Die Exporte von Industriegütern machten zwischen 1990 und 2007 etwa 45 % der Leistungsbilanzeinnahmen aus, sind seitdem aber allmählich auf fast ein Fünftel der Leistungsbilanzeinnahmen im Jahr 2023 zurückgegangen. Infolgedessen nehmen die Importe von Industriegütern stetig zu, insbesondere aus China, das seine Produktionsüberkapazitäten in einer Vielzahl von Sektoren exportiert. Dies schadete der Wettbewerbsfähigkeit des brasilianischen Produktionssektors, während höhere Einfuhrzölle, die als Reaktion erhoben wurden, seine Wettbewerbsfähigkeit mittelfristig weiter verringern könnten.
Die Diversifizierung wird eine der größten Herausforderungen sein, da die Abhängigkeit Brasiliens von Rohstoffen (obwohl dies sehr weit gefasst ist) das Land anfällig für einen Abschwung der Rohstoffpreise macht, wie in der zweiten Jahreshälfte 2014 und im Jahr 2008 zu beobachten war. Darüber hinaus haben Umweltfragen wie die Abholzung des Amazonasgebiets für landwirtschaftliche Flächen oder Erdölförderung und Bergbau nationale und internationale Bedenken aufgeworfen. Aus diesen Gründen plant die EU die Einführung einer Entwaldungsverordnung (ab 2025), die etwa ein Drittel der brasilianischen Exporte in die EU betreffen könnte, während die USA die Einführung der Amazonas-Initiative gegen illegale Finanzierungsquellen (Amazon Region Initiative Against Illicit Finance) zur Bekämpfung von Umweltverbrechen angekündigt haben.
Staatsfinanzen bleiben die Achillesferse des Landes, vor allem im Anbetracht immer häufigerer Naturkatastrophen
Die Staatsfinanzen sind nach wie vor Brasiliens Achillesferse. In den Jahren 2016 und 2019 wurden wichtige Reformen umgesetzt, um die Staatsfinanzen auf einem nachhaltigen Kurs zu halten, aber die Staatsverschuldung – 85 % des BIP Ende 2023 – liegt weiterhin deutlich über dem Durchschnitt der Schwellenländer. Zudem genehmigte der Kongress einen neuen, flexibleren Finanzrahmen, der eine Erhöhung der realen Ausgaben auf 70 % des jährlichen Wachstums der Steuereinnahmen erlaubt. Wenn bis 2025 kein primärer Haushaltsüberschuss erreicht wird, sinkt dieser Wert auf 50 % des Einnahmenwachstums (was flexibler ist als die 2016 eingeführte Ausgabenobergrenze). Es wird daher erwartet, dass die Staatsverschuldung bis 2029 auf nahezu 100 % des BIP ansteigen wird, was ein außerordentlich hohes Niveau darstellt. Eine weitere Abschwächung der fiskalischen Ziele, ähnlich den im April angesichts verheerender Überschwemmungen durchgeführten Maßnahmen, könnte diese Zahlen noch weiter zuspitzen. Obwohl die kürzlich verabschiedete Steuervereinfachung das Wirtschaftswachstum (und die öffentlichen Einnahmen) langfristig ankurbeln könnte, werden weitere Reformen notwendig sein, um die Staatsverschuldung auf einem nachhaltigen Pfad zu halten, insbesondere angesichts der zunehmenden klimawandelbedingten Naturkatastrophen. Allerdings gibt es auch wichtige ausgleichende Faktoren. Trotz der hohen Staatsverschuldung liegen die öffentlichen Zinszahlungen auf vertretbarem Niveau. Zudem tragen eine überwiegend inländische Investorenbasis (rund 90 % der Schulden sind in inländischer Hand), der hohe Anteil in brasilianischen Real (rund 94 % der Schulden),das große Volumen an liquiden Mitteln und die beträchtlichen Bestände der Zentralbank an Staatsanleihen dazu bei, die Risiken zu mindern.
Mittel- bis langfristiges politisches Risiko bleibt stabil
Das mittel- bis langfristige politischen Risiko, das 2022 hochgestuft wurde, hat einen stabilen Ausblick. Das Land weist relativ geringe Leistungsbilanzdefizite auf, die hauptsächlich durch ausländische Direktinvestitionen finanziert werden, und eine moderate Auslandsverschuldung. Allerdings geben die sich verschlechternden institutionellen Indikatoren und die öffentlichen Finanzen Anlass zur Sorge. Das kurzfristige politische Risiko liegt bei 2/7 und hat dank eines großen und relativ stabilen Puffers an Devisenreserven und einer überschaubaren kurzfristigen Auslandsverschuldung ebenfalls einen stabilen Ausblick.
Analystin: Jolyn Debuysscher (J.Debuysscher@credendo.com)