Lateinamerika: Schneller technologischer Wandel und große geopolitische Spannungen: Wie lange kann Lateinamerika eine neutrale Haltung wahren?
Auf einen Blick
- Bislang verfolgte Lateinamerika bei geopolitischen Rivalitäten einen unabhängigen und neutralen Ansatz, die sogenannte aktive Blockfreiheit.
- Von militärischen Auseinandersetzungen blieb es verschont, trotz seit Jahrhunderten anhaltender Grenzstreitigkeiten zwischen verschiedenen Ländern.
- Mittlerweile profitiert Lateinamerika erheblich vom Friendshoring. Es sind jedoch einige Hürden zu nehmen, ehe sich Vorteile bemerkbar machen.
- Steigendes Risiko: Re-Exporte oder Produkte von chinesischen oder US-amerikanischen Unternehmen mit Sitz in neutralen Ländern könnten zukünftig sanktioniert werden.
- Aufgrund potenziell unterschiedlicher Technologiestandards oder Sicherheitsbedenken könnte der technologische Wandel bei geopolitischen Rivalitäten zum alles entscheidenden Faktor werden.
Eine weitere Phase geopolitischer Schwankungen am Horizont
Historisch betrachtet hat die Welt unterschiedliche Phasen der Stabilität erlebt, geprägt vom Auf- und Abstieg globaler Supermächte, oft als globale Hegemonialmächte bezeichnet. Aktuell befindet sich die Welt wieder in einer überaus volatilen Phase, eine Folge der sich wandelnden globalen Machtverteilung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA seit Ende der 80er Jahre in einer relativ ruhigen Phase die einzige globale Supermacht. Allerdings befinden sich die USA seit einigen Jahren in einem Konflikt mit China, das sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer aufstrebenden globalen Supermacht entwickelt hat. In diesem Zusammenhang sind Rivalitäten vorprogrammiert, ebenso wie die Infragestellung der bisherigen Spielregeln und des Status quo durch die aufstrebende Supermacht. Es überrascht daher kaum, dass internationale Organisationen wie die WTO und die UN, gegründet unter dem Einfluss der USA, momentan handlungsunfähig sind, während China bei der Umstrukturierung von Staatsschulden neue Standards setzt. Der Konflikt beeinflusst auch den Rest der Welt. Beide Supermächte versuchen mit einer Mischung aus Anreizen und Zwangsmaßnahmen, ihre Interessen weltweit durchzusetzen. Gleichzeitig überschatten geopolitische Aspekte inzwischen die Effizienzgewinne der Weltwirtschaft. Länder werden dazu überredet, sich mit einer der beiden Parteien zu verbünden. Dies erhöht wiederum das Risiko einer Aufspaltung der Weltwirtschaft in geopolitische Blöcke. Diese Aufspaltung geht über den wirtschaftlichen Kontext hinaus (z. B. über Sanktionen). Sie betrifft auch diplomatische, technologische und militärische Aspekte. Überdies wittern einige regionale Supermächte und nichtstaatliche Akteure mit dem Ende der unipolaren Dominanz der USA nun die Chance, ihre eigene Agenda aggressiv voranzutreiben. Dies erhöht wiederum die geopolitische Volatilität, auch abzulesen an weltweiten Konflikten von der Ukraine bis zum Nahen Osten.
Lateinamerikas neutrale Haltung zur geopolitischen Rivalität zwischen den USA und China
Glücklicherweise ist Lateinamerika relativ immun gegen geopolitische Schwankungen, da es geografisch weit von regionalen Krisenherden entfernt ist. Außerdem blieb die Region von militärischen Auseinandersetzungen verschont, trotz anhaltender jahrhundertealter Grenzstreitigkeiten zwischen zahlreichen Ländern, darunter Peru und Bolivien mit Chile, Guatemala mit Belize und Guyana mit Venezuela und Suriname. Die meisten lateinamerikanischen Staaten, die historisch stark mit den USA verbunden sind, verfolgen bei geopolitischen Rivalitäten einen unabhängigen und neutralen Ansatz, die sogenannte „aktive Blockfreiheit“. Allerdings ist Chinas Einfluss in der Region in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen, insbesondere in Ländern wie Venezuela und Nicaragua, deren Verhältnis zu den USA als angespannt gilt.
Während die USA in Bezug auf Wirtschaft, Militär und „soft power“ nach wie vor großen Einfluss auf die meisten Länder haben, hat China seinen Einfluss aufgrund verschiedener Ereignisse ausgebaut. Erstens hat die wirtschaftliche Bedeutung des Landes seit seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation im Dezember 2001 in Lateinamerika erheblich zugenommen. Der Handel mit China hat sich beinahe verdreißigfacht, von 14 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 495 Milliarden im Jahr 2022. Diese Zahlen dürften heute sogar noch höher sein, vor allem weil chinesische Überkapazitäten (z. B. bei Elektrofahrzeugen) und Re-Exporte ihren Weg in die USA gefunden haben. Sie werden jedoch vom Handel zwischen Lateinamerika und den USA in den Schatten gestellt, der sich 2022 auf 1,5 Billionen US-Dollar belief, vor allem dank der starken Handelsbeziehungen zu Mexiko. Darüber hinaus könnten neue Einfuhrzölle, die lateinamerikanische Länder auf chinesische Waren erheben, wie die kürzlich in Mexiko, Chile und Brasilien verhängten Stahlzölle, das Handelswachstum in Zukunft einschränken, je nachdem, wie wirksam die Zölle sind.
Zweitens spielt China als weltweit größter staatlicher Kreditgeber eine immer wichtigere Rolle als Hauptgläubiger vieler lateinamerikanischer Staaten: Bislang haben sich 21 Länder Chinas Projekten zur „Belt and Road“-Initiative angeschlossen, während Länder wie Venezuela, Ecuador und Suriname erhebliche bilaterale Staatsschulden bei der asiatischen Nation haben. Außerdem ist China ein bedeutsamer Investor, vor allem in strategischen Branchen wie kritische Mineralien, Technologie und erneuerbare Energien. Die USA sind jedoch weiterhin der größte Investor in der Region (1,1 Billionen US-Dollar im Vergleich zu 6,4 Milliarden US-Dollar an Investitionen durch China im Jahr 2022; genaue Zahlen sind angesichts der undurchsichtigen chinesischen Kreditvergabe jedoch kaum zu finden). Auch militärisch spielen die USA immer noch die größte Rolle in Lateinamerika (z. B. im Krieg gegen Drogen oder gegen den Terror). Seit 2010 hat sich ihr Schwerpunkt jedoch auf den Nahen Osten und Asien verlagert. China baut währenddessen die Sicherheitsbeziehungen in der Region aus – von stärkeren militärischen Beziehungen zu Kuba und Venezuela bis hin zu Investitionen in den Raumfahrtsektor mit mehreren Satellitenbodenstationen in der gesamten Region und Abkommen mit Strafverfolgungsbehörden. Letztendlich ist auch Chinas „soft power“ in der Region gestiegen, vor allem während der Covid-19-Pandemie, als es vor dem Westen medizinische Ausrüstung und hunderte Millionen Impfdosen lieferte.
Mehr Friendshoring bei fortbestehenden Hürden
Die Rivalität zwischen den USA und China in Kombination mit seiner neutralen Haltung hat Lateinamerika Chancen eingebracht, vor allem durch Investitionen, die langfristig das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Dank der geographischen Nähe und der zahlreichen, billigen Arbeitskräfte haben die USA Lateinamerika – vor allem Mexiko und Brasilien – für Friendshoring ins Visier genommen. US-amerikanische Unternehmen sind dazu angehalten, ihre Produktion und Investitionen in Länder zu verlagern, die geopolitische Verbündete sind. Außerdem entstehen Kooperationen zwischen den USA und Ländern wie Costa Rica und Panama, um eine regionale Halbleiterlieferkette zu entwickeln und damit Chinas zentrale Position in der globalen Lieferkette für Elektronik zu umgehen.
Überdies ist die Region attraktiv, da sie den Schlüssel zum globalen grünen Wandel in den Händen hält. Lateinamerika ist reich an strategischen Rohstoffen, darunter Lithium und Kupfer, und daher ein entscheidender Partner für China mit seiner globalen Vormachtstellung bei der Verarbeitung kritischer Mineralien. Die Region ist somit auch für westliche Länder attraktiv, die Chinas Vormachtstellung schwächen wollen, zumal asiatische Länder wie China bereits begonnen haben, Ausfuhrbeschränkungen für strategische Mineralien zu verhängen. Allerdings ist Friendshoring ein langfristiger Trend und es kann Jahre dauern, bis Länder von den Vorteilen profitieren. Des Weiteren können Hürden wie eine schlechte Infrastruktur, unvorhersehbare politische Maßnahmen (wie die mexikanische Verstaatlichung der Lithiumproduktion), geringe Effektivität, niedrige Produktivität (die Produktivität Lateinamerikas ist nach dem Nahen Osten die zweitniedrigste der Welt) und ein geringer technischer Fortschritt im Vergleich zu den asiatischen Ländern höchstwahrscheinlich einen größeren Investitionsboom behindern. Vielleicht befürchten Investoren auch, dass bündnisfreie Volkswirtschaften gezwungen sein könnten, sich in Zukunft für einen Block zu entscheiden, und halten sich deshalb mit Investitionen zurück. Eine weitere Sorge ist, dass indirekte Importe stärker kontrolliert werden könnten.
Mittlerweile kommt es häufiger zu einseitigen Handelsbeschränkungen, oft im Namen der nationalen Sicherheit. Bislang wurden solche Verbote und Zölle gegen China, die USA oder eindeutigverbündete Blockstaaten verhängt. Es besteht jedoch das Risiko, dass Re-Exporte durch neutrale Drittländer oder Produkte von chinesischen oder US-amerikanischen Unternehmen mit Sitz in neutralen Ländern ebenfalls sanktioniert werden. So erhob der ehemalige US-Präsident Donald Trump 2018 hohe Steuern auf chinesische Importe, die seitdem weitgehend beibehalten wurden. Infolgedessen ließen sich zahlreiche chinesische Unternehmen in Mexiko nieder, weil das Land mit den USA und Kanada ein Freihandelsabkommen (USMCA) hat. Die USA äußern nun Bedenken bezüglich der in Mexiko ansässigen chinesischen Unternehmen, weil diese je nach Zusammensetzung der Ware zu einem viel niedrigeren Zolltarif oder sogar zollfrei in die USA exportieren und die gegen China verhängten Strafzölle umgehen. Diese Bedenken haben zugenommen, vor allem seit Mexiko im letzten Jahr China überholte und zum größten Handelspartner der USA aufstieg. Dieser Faktor dürfte daher auch 2026 bei den Verhandlungen zur Überprüfung des USMCA-Abkommens, das 2036 ausläuft, eine wichtige Rolle spielen.
Ein technologisches Dilemma steht bevor
Der technologische Wandel ist bei geopolitischen Rivalitäten voraussichtlich der nächste alles entscheidende Faktor. Im Laufe der Jahre wurde ein rasanter technologischer Fortschritt beobachtet, bei dem die USA lange Vorreiter waren. China hat sich jedoch schnell zu einem beeindruckenden technologischen Konkurrenten aufgeschwungen. Beide Supermächte haben die potenziellen Vorteile von Technologie erkannt und wollen mit wirtschaftlichem Druck und Sanktionen ihren technologischen Vorsprung ausbauen, zum Beispiel bei modernen Halbleitern. Außerdem stehen Staaten und Unternehmen zunehmend vor dem Dilemma, dass sie sich entscheiden müssen, welche Technologien sie bevorzugen und auf welche sie nicht verzichten können. Die USA setzen lateinamerikanische Staaten zunehmend mit Sanktionen unter Druck, um sie davon abzuhalten, chinesische Huawei-Telekommunikationstechnik (für 5G-Mobilfunknetze) zu übernehmen. Sie begründen dies mit der potenziellen Anfälligkeit für Cyber- und Spionagebedrohungen aus China. Lateinamerikanische Länder entscheiden sich jedoch nach wie vor für Huawei, da die US-amerikanischen oder europäischen Alternativen oft teurer sind. Die Frage ist, was mit Voranschreiten der technologischen Entwicklungen passieren wird, z. B. im Bereich Künstliche Intelligenz (KI), Smart Cities, digitale Währungen und bei einem potentiellen grenzüberschreitenden Zahlungssystem. Überdies könnten einseitige Sanktionen zukünftig auf Unternehmen und Länder ausgeweitet werden, die aufgrund von Sicherheitsbedenken die Technologie der rivalisierenden Supermacht nutzen. Vor diesem Hintergrund stellt sich für Lateinamerika die Frage, wie lange es seine neutrale Position beibehalten kann, wenn sich die Blöcke weiter voneinander entkoppeln. Denn dies könnte letztlich zu unterschiedlichen technologischen Standards oder Sanktionen aufgrund von technologiebedingten Sicherheits- und Spionagebedenken führen.
Analystin: Jolyn Debuysscher – J.Debuysscher@credendo.com