Welt: Eine neu entstehende multipolare Ordnung mit großer Tragweite
Auf einen Blick
- Die neue multipolare Weltordnung wird die Tore für weitere Konflikte öffnen, chaotischer sein und die globale Sicherheit und Stabilität untergraben.
- Der heterogene „Globale Süden“ drängt auf mehr Einfluss, was sich auf die globale Wirtschaft, internationale Institutionen, Werte und Standards auswirken wird.
- Die Rivalität zwischen den USA und China führt zu Verschiebungen in den globalen Lieferketten, während die Handelsverzerrungen weltweit stark zugenommen haben.
- Klimarisiken, die in einer fragmentierten Welt schwieriger zu bewältigen sind, werden ihrerseits erhebliche Auswirkungen haben.
Die letzten zwei Jahre wurden von zwei großen Konflikten geprägt: dem Krieg in der Ukraine seit Februar 2022 und dem Krieg in Gaza seit Oktober 2023. Während diese geopolitischen Risiken die Instabilität in ihren jeweiligen Regionen anheizen, die Unsicherheit erhöhen und der Weltwirtschaft schaden, veranschaulichen und beschleunigen sie auch den Übergang zu einer neuen multipolaren Weltordnung. In Verbindung mit dem Klimawandel werden sie langfristig tiefgreifende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und institutionellen Grundlagen der Welt haben.
Mehr Konflikte untergraben die globale Sicherheit und Stabilität
2023 war ein weiterer Indikator für die neue Ära der Unsicherheit und des steigenden Konfliktpotentials. Im Oktober 2023 brach der Krieg im Gazastreifen aus, ein immer wieder aufflammender Konflikt mit weitreichenden geopolitischen und wirtschaftlichen Auswirkungen, während der Krieg in der Ukraine, der erste große Konflikt dieses Jahrhunderts, noch nicht beendet werden konnte. Israels Entschlossenheit, die Hamas auszulöschen, die schwere humanitäre Krise im Gazastreifen und die Gefahr einer regionalen Eskalation unter Beteiligung von Großmächten (insbesondere der USA und des Iran) machen Zurückhaltung und Friedensbemühungen zu einer großen Herausforderung. Wie der Krieg in der Ukraine zeigt auch der Gazakrieg Züge eines geopolitischen Schachspiels: Die Angriffe der Huthi richten sich gegen westliche Handelsschiffe im Roten Meer, die von einer hauptsächlich westlichen Marineallianz verteidigt werden.
Neben den aktuellen Konflikten ist die Welt auch mit weiteren schweren, latent schwelenden Konflikten konfrontiert, wobei Asien das Epizentrum bildet. Die Region steht im Mittelpunkt des Interesses in Anbetracht der wichtigen Rolle, die sie im Welthandel und in der Weltwirtschaft spielt und aufgrund der Präsenz Chinas, das mit den USA um die Vormachtstellung in der Welt konkurriert. In diesem Jahrhundert hat Asien eine größere und schnellere Aufrüstung erlebt, die vor allem (aber nicht nur) auf die Entwicklung von Verteidigungskapazitäten angesichts des zunehmend dominanten Auftretens Chinas abzielt. Als schwierigster Streitpunkt zwischen den USA und China ist Taiwan das größte Kriegsrisiko in der Region. Seit dem Sommer 2022 hat China den militärischen Druck in der Meerenge von Taiwan verstärkt. Ein friedlicher Ausgang scheint unwahrscheinlicher, da die für die Unabhängigkeit Taiwans einstehende Regierungspartei die Wahlen im Januar 2024 erneut gewonnen hat. Daher wird die Wahrscheinlichkeit einer chinesischen Invasion, eines Embargos oder hybrider Operationen in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Auch im Südchinesischen Meer, wo viele Souveränitätsstreitigkeiten ungelöst geblieben sind, haben sich die Spannungen verschärft und zu häufigen Zwischenfällen zwischen philippinischen Schiffen und der chinesischen Küstenwache geführt. Die Spannungen und die Gefahr von Fehleinschätzungen werden bestehen bleiben, da es nicht gelingt, Kompromisse zwischen China und anderen Staaten mit Souveränitätsansprüchen zu finden. Was die koreanische Halbinsel betrifft, so haben die fortgeschrittenen Atomwaffenkapazitäten Pjöngjangs und der verstärkte Raketenbeschuss zu einem wachsenden Risiko eines Konflikts mit Südkorea und den USA geführt.
Eine neue Weltordnung, die multipolar und von Natur aus instabil ist
Der Krieg im Gazastreifen und der Krieg in der Ukraine brachen beide in einer sich rasch verändernden Weltordnung aus. Dadurch entstehen schwelende Konflikte in einem Umfeld, das durch ein Gleichgewicht der Kräfte charakterisiert wird und in dem Konflikte zunehmend durch den Einsatz von Gewalt statt durch internationale Regeln und diplomatische Bemühungen gelöst werden. Aserbaidschans blitzartige militärische Beendigung des langjährigen Bergkarabach-Konflikts im September 2023 und Venezuelas Androhung einer militärischen Intervention zur Übernahme von Guyanas ölreicher Essequibo-Region wären bis vor Kurzem nicht möglich gewesen, als die USA noch als Weltpolizei auftraten.
Es ist eine Tatsache, dass die multipolare Weltordnung den „Globalen Süden“, der heterogen und auch nicht eindeutig definiert ist, in einer Vielzahl von Belangen und bei Forderungen nach mehr Einfluss immer wieder in Opposition zum Westen bringt, was weitreichende Folgen für die globale Sicherheit, Stabilität, Wirtschaft, Institutionen und Normen haben wird. Die Gestaltung der neuen Weltordnung hat sich in der Erweiterung der BRICS-Staaten (seit Januar von fünf auf elf Mitglieder angewachsen, weitere werden folgen) und in der zunehmenden Entdollarisierung des Süd-Süd-Handels und der Kreditvergabe niedergeschlagen (wovon vor allem Chinas Renminbi profitiert). Darüber hinaus ermöglicht die Logik der von den USA einerseits und China andererseits geführten Staatenblocks mit einer großen bündnisfreien Gruppe von Ländern dazwischen eine verstärkte militärische Zusammenarbeit zwischen Russland, Nordkorea und dem Iran. Außerdem ist Russland infolge der Wirtschaftssanktionen zu Indiens wichtigstem Öllieferanten geworden, während die chinesischen Chipexporte nach Russland sprunghaft angestiegen sind, und China nun die EU als größten Handelspartner Russlands abgelöst hat.
Die geowirtschaftliche Fragmentierung nimmt ihren Lauf
Die neue Weltordnung kommt auch in einer Verschiebung der globalen Lieferketten zum Ausdruck. Der Handels- und Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China, gefolgt von der Covid-19-Krise, haben einen Prozess der geoökonomischen Fragmentierung ausgelöst. Wie in den letzten Jahren zu beobachten war und auch in Zukunft zu erwarten sein wird, werden Strategien basierend auf Friend- bzw. Nearshoring und De-Risking neue Lieferketten, Handels- und Investitionsströme schaffen, insbesondere für strategische Güter und Dienstleistungen. Inmitten der starken amerikanisch-chinesischen Spannungen wurden Handelsbeschränkungen für Chips (vom Westen, angeführt von den USA) und für kritische Mineralien (von China) eingeführt, was künftige Entwicklungen beim ökologischen Wandel und der Energiewende sowohl in den USA als auch im chinesischen „Block“ behindern dürfte. Darüber hinaus könnten die durch die EU eingeleiteten Untersuchungen wegen der chinesischen Subventionen für Elektrofahrzeuge zu künftigen Einfuhrzöllen in die EU führen. Dies wiederum wird wahrscheinlich chinesische Vergeltungsmaßnahmen mit sich bringen. Der zunehmende Trend zu weltweiten Handelsbarrieren scheint sich im geopolitischen Kontext fortzusetzen. Alles in allem wird die Überwindung von Handelsbarrieren und politischen Hindernissen in Zukunft komplexer und risikoreicher, und dies wird Auswirkungen auf Investitions-, Handels- und Geschäftsentscheidungen haben.
Der Klimawandel: ein weiterer Wendepunkt für die Weltordnung
Neben den geopolitischen Risiken ist der Klimawandel das andere hervorstechende globale Risiko, das die Weltordnung beeinflussen wird. Das Jahr 2023 war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, und in Verbindung mit El Niño kam es zu einer steigenden Zahl extremer Naturereignisse, von schweren Dürren im Amazonasgebiet, in Ostafrika und Zentralasien über Hitzewellen in Indien und ausgedehnten Waldbränden in Europa und Kanada bis hin zu Rekordverlusten durch Klimakatastrophen in den USA. Die Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP28) bestätigte einmal mehr die traurige Tatsache, dass die Welt nach wie vor nicht in der Lage ist, die notwendigen Anstrengungen zur Abschwächung des Klimawandels und zur Anpassung daran zu unternehmen, was in Zukunft unweigerlich zu weiteren wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Problemen führen wird. Die schleppenden Fortschritte sind auf mehrere Faktoren zurückzuführen, zum Beispiel auf den Widerstand gegen Veränderungen, Kurzsichtigkeit und auf das offensichtlich beispiellose Ausmaß des Finanzierungsbedarfs und des wirtschaftlichen Wandels, der in nur kurzer Zeit umgesetzt werden muss. Aber auch der Mangel an globaler Zusammenarbeit ist ein ausschlaggebender Faktor, da starke geopolitische Spannungen der Einigung auf mutige gemeinsame Maßnahmen im Weg stehen. In der sich abzeichnenden multipolaren Weltordnung werden Groß- und Mittelmächte um einen größeren Anteil am geopolitischen und wirtschaftlichen Kuchen konkurrieren – oder im Falle des Westens zumindest darum, diesen zu behalten. Die Industrieländer wollen nicht riskieren, dass ihre eigene Entwicklung ins Stocken gerät, in dem sie zu Gunsten anderer Mächte durch einen beschleunigten Ausstieg aus fossilen Brennstoffen oder durch die Bereitstellung von immensen Klimafinanzierungsmitteln für Entwicklungsländer (aufgrund ihres historisch höheren Beitrags zum Klimawandel) ihre Wettbewerbsfähigkeit verspielen.
Mit Blick auf die Zukunft werden Klimarisiken tiefgreifende Auswirkungen auf die Weltordnung haben, etwa auf den Zugang zu natürlichen Ressourcen (Wasser, Nahrungsmittel, wichtige Mineralien) oder in Form von Konflikten und sozioökonomischen Schäden für einzelne Länder und ihre Ökosysteme. Daher könnten sich die heutigen langfristigen wirtschaftlichen und geopolitischen Prognosen als sehr unsicher erweisen, je nachdem, wie sich die besagten Klimarisiken in der Praxis langfristig entwickeln. Der Klimawandel wirkt sich durch Handelsbeschränkungen auch spürbar auf die globalen Handelsströme aus. Angesichts der negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die heimische Agrarproduktion haben immer mehr Länder beschlossen, den Export einiger Grundnahrungsmittel zu beschränken, angeblich um die heimische Ernährungssicherheit zu schützen (zum Beispiel Indien bei der Ausfuhr von Reis und Zucker). Generell berufen sich (mittlere und große) Länder zunehmend auf Nahrungsmittel-, Energie- und nationale Sicherheit als politische Ziele, um protektionistische Maßnahmen zu rechtfertigen, die sich negativ auf die globalen Versorgungsketten und den Zugang zu wichtigen Rohstoffen auswirken und die Weltmarktpreise, vor allem für Grundnahrungsmittel, in die Höhe treiben. Solche Entwicklungen werden in Zukunft immer häufiger auftreten. Der Aufbau eines diversifizierten und zuverlässigen Netzes von Handelspartnern wird daher für die Widerstandsfähigkeit jedes einzelnen Landes von entscheidender Bedeutung sein, insbesondere angesichts der Fragmentierung der Weltordnung.
Analyst: Raphaël Cecchi – r.cecchi@credendo.com