Türkei: Hohe Anfälligkeit infolge unorthodoxer Geldpolitik und starker Abhängigkeit von Außenfinanzierung
Auf einen Blick
- Die Wirtschaftstätigkeit wird von Fördermaßnahmen gestützt, die im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 zu erwarten sind.
- Enorme Inflation infolge unorthodoxer Geldpolitik.
- Anfälligkeit gegenüber externen Faktoren angesichts zunehmendem Leistungsbilanzdefizit, geringer Liquidität und hoher Abhängigkeit von kurzfristiger Finanzierung.
- Die Erschließung externer Finanzmittel könnte angesichts einer deutlichen Verschärfung des globalen Finanzumfelds zu einer größeren Herausforderung werden.
- Trotz moderater Auslands- und Staatsverschuldung sind die Aussichten für das kurzfristige und mittel- bis langfristige politische Risiko negativ.
Pro
Kontra
Staatsoberhaupt
Bevölkerung
BIP pro Kopf
Einkommensgruppe
Hauptexportgüter
Äußerst widerstandsfähige Wirtschaft, doch am Horizont ziehen dunkle Wolken auf
Obwohl die türkische Wirtschaft infolge der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 und jüngst durch den Krieg in der Ukraine wiederholt von externen Schocks getroffen wurde, ist das reale BIP-Wachstum seit zwei Jahren außerordentlich stark und widerstandsfähig (s. Grafik zum realen BIP-Wachstum im Jahresvergleich). Mit der Energiekrise in Europa und der Null-Covid-Politik und Immobilienkrise in China stehen der globalen Wirtschaftstätigkeit weitere Schocks bevor, doch trotz dieses starken Gegenwinds wird kurzfristig mit einer unveränderten Widerstandsfähigkeit der türkischen Wirtschaft gerechnet. Im Vorfeld der für Juni 2023 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen werden Fördermaßnahmen wie das kürzlich angekündigte Wohnbauprojekt erwartet, mit denen die Wirtschaftstätigkeit gestärkt werden soll. Präsident Erdoğan strebt eine Wiederwahl an, wobei er dieses Mal nach Einschätzung einiger Beobachter einer geeinteren Opposition gegenüberstehen könnte. Vor diesem Hintergrund ist nicht unwahrscheinlich, dass äußere Spannungen, insbesondere im Mittelmeer, zunehmen und Wähler von nationalen Problemen wie den auf die enorme Inflation zurückgehenden hohen Lebenshaltungskosten und dem anhaltenden Wertverlust der Lira ablenken werden.
Längerfristig erscheint ein Abschwung erwartbar und die Risiken, denen die Wirtschaft ausgesetzt sein wird, sind vielfältig. Bislang konnte die Türkei (neuer offizieller Name des Landes: Republik Türkiye) von positiver Auslandsnachfrage, insbesondere aus der EU, und starker Nachfrage aus dem Nahen Osten und Nordafrika profitieren. Ihr Haupthandelspartner die EU, auf die circa 40 % der türkischen Exporte entfallen, leidet aufgrund der Entscheidung Russlands, die Gaslieferungen an den Staatenverbund zu reduzieren, jedoch unter einer Energiekrise. Dies dürfte, je nach Umfang und Dauer der europäischen Energiekrise, zu einer Verlangsamung oder sogar zu einem Rückgang der Exporte in die EU führen. Binnenwirtschaftlich wird nach den Wahlen mit einer Rücknahme der Fördermaßnahmen gerechnet. Darüber hinaus wird die Binnennachfrage von einem Rückgang des Realeinkommens infolge der hohen Lebenshaltungskosten gedämpft.
Unorthodoxe Geldpolitik
Auch wenn steigende Inflation bei hohen Nahrungsmittel- und Energiepreisen sowie Lieferkettenengpässe ein globaler Trend sind, ist der Inflationsdruck in der Türkei nicht allein durch diese externen Faktoren zu erklären. Er ist auch auf die kontinuierliche Abwertung der Lira (s. Grafik zum Wechselkurs der türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar, in der die ansteigende Kurve die zunehmende Abwertung darstellt) und die unorthodoxe Geldpolitik zurückzuführen. Die Zentralbank hat den Zinssatz in diesem Jahr dreimal gesenkt, während die Inflation im Jahresvergleich auf über 80 % angeschwollen ist, einen seit den 90er Jahren nicht mehr gesehenen Höchststand (s. Grafik zum Leitzins, zur jährlichen Inflation sowie zu durchschnittlichen kommerziellen Krediten). Zudem bleibt der durchschnittliche Zinssatz für kommerzielle Kredite unverändert niedrig, da Banken sanktioniert werden, wenn sie Kredite mit hohen Zinssätzen vergeben.
Die extrem hohe Inflationsrate belastet die Kaufkraft und damit auch die Binnennachfrage.
Außenhandelsbilanz
Trotz des sehr starken Wachstums der Leistungsbilanzeinnahmen, das durch die anhaltend günstige Auslandsnachfrage sowie eine Erholung in der Tourismusbranche bedingt wird, nimmt das Leistungsbilanzdefizit aufgrund der hohen Energiepreise zu. Dieses anschwellende Leistungsbilanzdefizit ist ein Zeichen der Verwundbarkeit und wird weiterhin zu großen Teilen von volatilen kurzfristigen Kapitalzuflüssen finanziert, obwohl die Türkei aufgrund ihrer geographischen Lage ein attraktiver Standort für ausländische Investoren ist.
Seit Jahren stellt diese hohe Abhängigkeit von kurzfristiger Außenfinanzierung eine der bedeutendsten Schwächen der Türkei dar. Bislang konnte das Land genügend ausländische Finanzmittel anziehen (vorwiegend Portfolioinvestitionen und kurzfristige externe Kredite), um sein Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren. Die rapide Verschlechterung der globalen Finanzlage bei gleichzeitiger koordinierter Straffung der Geldpolitik könnte die türkische Wirtschaft jedoch hart treffen, wenn der Zugang zu Außenfinanzierung zu schwierig wird oder es zu beschleunigten Kapitalabflüssen kommt. Auch negative Wahrnehmungen – wie etwa Befürchtungen, dass westliche Sanktionen gegen türkische Organisationen oder Personen verhängt werden, wenn Anschuldigungen vorliegen, dass diese Russland bei der Umgehung von Sanktionen helfen – könnten den Zugang der Türkei zu Fremdfinanzierung aus dem Westen behindern. Weiterhin sind die Währungsreserven niedrig und stehen regelmäßig unter Druck (s. Grafik zu den Bruttowährungsreserven). Außerdem können sie die ausgesprochen hohe kurzfristige Auslandsverschuldung, die gemäß Angaben der Zentralbank im August bei 138 Mrd. USD lag, nicht decken.
Das steigende Leistungsbilanzdefizit und Kapitalabflüsse belasten die Lira, die bereits seit Jahren stark unter Druck steht (und daher weiterhin zum Inflationsdruck beiträgt). Während die Abwertung der Lira die außenwirtschaftliche Wettbewerbsposition von Exporteuren theoretisch stärken sollte, ist in der Praxis nur eine begrenzte Wirkung zu beobachten, da Exporteure auf teurere Importe in Lokalwährung angewiesen sind. Außerdem sind die inländischen Produktionskosten hoch und könnten weiter zunehmen, da auch die Mindestlöhne im Vorfeld der Wahlen im Juni steigen dürften. Die starke Abwertung der Lira führt des Weiteren dazu, dass Unternehmen, die nicht abgesichert sind oder keine Einkünfte in Fremdwährung haben, in Lokalwährung gerechnet immer höhere Kosten aufbringen müssten, um auf Fremdwährung lautende Schulden zurückzuzahlen.
Die Unternehmensverschuldung ist hoch – 72,6 % des BIP in Quartal 1 2022 laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich – und besteht vorwiegend gegenüber dem heimischen Bankensektor, der aufgrund seines negativen Netto-Auslandsvermögensstatus von etwa 10 % des BIP (Juni 2022) Veränderungen im globalen Finanzumfeld besonders stark ausgesetzt ist.
Moderate Verschuldung des Zentralstaats weiterhin dem Wechselkursrisiko ausgesetzt
Die Verschuldung des Zentralstaats bleibt mit ca. 40 % des BIP im Jahr 2022 weiterhin moderat. Die öffentliche Verschuldung ist jedoch dem Wechselkursrisiko ausgesetzt, da über 50 % der Verschuldung des Zentralstaats auf Fremdwährung lauten. Ferner könnten Maßnahmen zur Stützung der Währung – die eingeführt wurden, um Inhaber von auf Lira lautenden Einlagen im Falle einer Wertverminderung (unter bestimmten Bedingungen) zu schützen – für die Behörden mit hohen Kosten verbunden sein, die auf den anhaltenden Druck in diesem Bereich zurückgehen. Es ist außerdem schwierig, sich einen Gesamtüberblick über den Zustand der öffentlichen Finanzen jenseits der Zentralregierung zu verschaffen, etwa hinsichtlich der Folgen aller Bauprojekte und der staatlichen Garantie.
Länderrisiko unter Druck
Trotz des robusten Wachstums des realen BIP wird das Geschäftsumfeldrisiko unverändert in die höchste Risikokategorie G/G eingeteilt. Grund hierfür sind die herausfordernden makroökonomischen Rahmenbedingungen, die sich aus dem schwierigen Kreditzugang für den Privatsektor (trotz eines nominalen Anstiegs der Kreditvergabe an den Privatsektor um 65 % im August dieses Jahres), der drastischen Abwertung der türkischen Lira und der hohen Inflation ergeben.
Das kurzfristige politische Risiko, das die Liquidität eines Landes widerspiegelt, wird in Kategorie 5/7 eingestuft. Der Bewertungsausblick ist negativ, da die Türkei der anhaltenden Verschärfung des globalen Finanzumfelds in hohem Maße ausgesetzt ist, was auf ihre Abhängigkeit von kurzfristiger Außenfinanzierung, den niedrigen Bruttowährungsreserven und den großen Bestand an kurzfristigen Auslandsverbindlichkeiten zurückzuführen ist. Das mittel- bis langfristige politische Risiko, das die Zahlungsfähigkeit eines Landes widerspiegelt, steht ebenfalls unter Druck, was auf die schwache Liquidität und die unorthodoxe Geldpolitik zurückgeht. Gleichzeitig wird die Einstufung des mittel- bis langfristigen politischen Risikos (5/7) von den moderaten Bruttoauslandsschulden, Schuldendienstverpflichtungen und Schulden der Zentralregierung sowie der gut diversifizierten Wirtschaft gestützt.
Analystin: Pascaline della Faille – P.dellaFaille@credendo.com