Die Türkei: Eine Rückkehr zu konventionellerer Geldpolitik verbessert die Länderrisikoprognose – aber für wie lang?

Auf einen Blick
- Präsident Erdoğan ernannte nach seiner Wiederwahl im Mai 2023 ein neues, konventionelleres Wirtschaftsteam.
- Eine konventionellere Geldpolitik erhöhte den Druck auf den Wechselkurs und ließ den Druck auf die Währungsreserven schrumpfen.
- 2023 wuchs das Haushaltsdefizit, die Staatsfinanzen bleiben jedoch solide.
- Die Konjunktur schwächelt weiterhin, während allmählich eine begrüßenswerte Korrektur der gesamtwirtschaftlichen Lage eintritt.
- Positive Länderrisikoprognose, solange es bei einer soliden Politik bleibt.
Pro
Kontra
Staatsoberhaupt
Bevölkerung
BIP pro Kopf
Einkommensgruppe
Hauptexportgüter
Konventionellere Geldpolitik
Nach seiner Wiederwahl im Mai 2023 ernannte Präsident Erdoğan eine neues, konventionelleres Wirtschaftsteam, angeführt von Finanzminister Mehmet Şimşek und der Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan.
Seit ihrem Amtsantritt verfolgte Erkan eine konventionellere Geldpolitik, indem sie den Leitzins nach und nach auf 40 % erhöhte (Anfang Juni 2023 lag dieser noch bei 8,5 %), sodass die türkische Lira an Wert verlor. Überdies schaffte sie einige unorthodoxe Finanzinstrumente ab, darunter ein devisengestütztes Einlagensystem. Der geldpolitische Kurswechsel verschärft den Druck auf die türkische Lira, deren Wert abstürzte. Daher ist die Inflation wieder auf dem Vormarsch (siehe Grafik unten).
Haushaltsdefizit 2023 vermutlich höher als 2021–22
Finanzminister Şimşek setzte nach Amtsantritt harte finanzpolitische Maßnahmen um, darunter eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Steuer auf Kraftstoffe. Außerdem kündigte er Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor an. Trotz dieser Maßnahmen ist das Gesamthaushaltsdefizit (in türkischer Lira) 2023 voraussichtlich höher als in den vergangenen Jahren (siehe Grafik zum Gesamthaushaltsdefizit pro Jahr). Zurückzuführen ist dies vor allem auf hohe Staatsausgaben vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (Mai 2023), sowie auf die Wiederaufbaukosten nach dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023. Trotz des größeren Defizits dürfte das Jahr 2023 mit einer moderaten Staatsverschuldung von voraussichtlich 35 % des BIP abgeschlossen werden. Für die Zukunft wird ein Rückgang des Haushaltsdefizits (im Verhältnis zum BIP) erwartet, obwohl mit einem Anstieg der Zinszahlungen im Verhältnis zu den Einnahmen zu rechnen ist.
Voraussichtlicher Rückgang des realen BIP
In den letzten Jahren erwies sich das Wachstum des realen BIP als robust und widerstandsfähig gegenüber externen Schocks (wie der Pandemie oder dem Krieg in der Ukraine). Begünstigt wurde es durch eine überaus expansive Geldpolitik, die das Kreditwachstum ankurbelte und ein großes makroökonomisches Ungleichgewicht verursachte, etwa hohe Unternehmensverschuldung, massiven Druck auf Währungsreserven und anhaltenden Druck auf die türkische Lira. Vor diesem Hintergrund würde die Einführung einer weniger expansiven Finanz- und Geldpolitik nach Erdoğans Wiederwahl unweigerlich zu einem schwächeren Wirtschaftswachstum und einer begrüßenswerten Neuausrichtung der makroökonomischen Bedingungen führen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit die Regierung diese Abschwächung im Vorfeld der Kommunalwahlen im März 2024 akzeptieren wird. Überdies ist noch nicht absehbar, ob Erdoğan – ein Gegner hoher Zinsen – letztlich einer konventionelleren Geldpolitik über einen längeren Zeitraum hinweg zustimmt. So hatte Erdoğan in den vergangenen Jahren bereits einen konventionelleren Zentralbankchef ernannt, nur um ihn später wieder zu entlassen.
Langfristige Umsetzung der konventionelleren Politik für Bekämpfung der Schieflage unerlässlich
Eine langfristig konventionellere Politik würde Schritt für Schritt der internen sowie externen Schieflage entgegenwirken. Das Leistungsbilanzdefizit sinkt bereits und verzeichnete im Juni und September sogar einen vorrübergehenden Überschuss, da die Exporte schneller als die Importe stiegen. Die Bruttowährungsreserven wachsen wieder (siehe Grafik zur Liquiditätslage), während die kurzfristige Auslandsverschuldung der Zentralbank nicht weiter steigt. Tatsächlich hat die Zentralbank die kurzfristige Kreditaufnahme im Ausland (und im inländischen Bankensektor) eingestellt, um ihre Währungsreserven zu erhöhen. Dies dürfte die Liquidität allmählich verbessern und das Vertrauen im In- und Ausland stärken (was wiederum die Goldimporte verringern sollte, die momentan als Sicherheitsnetz gegen die Abwertung der Lira verwendet werden). Im Falle einer anhaltenden Verbesserung der Lage wäre Credendo geneigt, seine kurzfristige politische Risikobewertung anzuheben, die die Liquidität des Landes widerspiegelt.
Starke Solvenz
Die Solvenz der Türkei ist gut. Die Bruttoauslandsverschuldung und die Schuldendienstquote halten sich in Grenzen. Trotz der kürzlichen Verschlechterung bleiben die Staatsfinanzen solide. Überdies ist die Wirtschaft breit aufgestellt, auch wenn fast 12 % der Leistungsbilanzeinnahmen auf den Tourismus entfallen. Die Achillesferse besteht weiterhin in der hohen Abhängigkeit von kurzfristigen Auslandskrediten und Kapitalzuflüssen. Andere Schwächen sind auf die hohe Unternehmensverschuldung zurückzuführen, die zuletzt jedoch deutlich sank und sich weitgehend im Besitz des Bankensektors befindet. Dieser wird insbesondere durch Auslandskredite finanziert, wenngleich sich die Situation des Nettoauslandsvermögens der Banken im Verhältnis zum BIP verbessert hat. Vor diesem Hintergrund hängt eine Verbesserung des mittel- bis langfristigen politischen Risikos vor allem davon ab, ob weiterhin eine eher konventionelle Politik verfolgt wird. Da sich das reale BIP-Wachstum verlangsamt und die Inflation steigt, sind die bevorstehenden Kommunalwahlen ein wichtiger Test. In Anbetracht des hohen Fremdfinanzierungsbedarfs und der starken Abhängigkeit von kurzfristiger Fremdfinanzierung würde jede Rückkehr zu einer unorthodoxen Geldpolitik zu erneuten Kapitalabflüssen und erneutem Druck auf die Bruttowährungsreserven führen. Sollte es dazu kommen, wirkt sich dies negativ auf die Länderrisikobewertung aus.
Analystin: Pascaline della Faille – P.dellaFaille@credendo.com